Kam Pfingsten zu spät?

Durch den offenen Himmel,

der Pfingsten heißt, o Gott,

lass deinen Geist hereinfallen,

in unsere Ereignisse.

Schriftzeichen des Unsichtbaren werden lesbar.

Neuer brennender Dornbusch: die ganze Erde.

Pfingsten damals

ist zu spät gekommen – denken manche.

Wäre es doch eher hereingebrochen

am Tag, als man deinen Christus

vor den Richter schleppte.

Wäre doch eher ein Flammensturm

herabgebraust zur Stunde,

als dein Sohn festgenagelt war am Kreuz!

Und noch besser: Deine Feuerblitze

hätten eher einschlagen sollen

in die Truppe des Nachts,

als man Jesus festnahm.

Aber in jener Nacht: nichts –

und an jenem Tage: nichts.

Welch herrliche Panik wäre da entstanden,

wäre im rechten Moment

dein Feuer vom Himmel geprasselt,

hätte dein Geiststurm das Volk

über den Haufen geworfen wie Zinnsoldaten.

Da wären sie klein geworden,

und du, Gott, wärst Sieger geblieben!

Nun aber fand Pfingsten an jenem Tag

nicht statt, sondern fünfzig Tage später.

Dein Geist kommt nie, wann man

mit ihm rechnet, sondern

später oder früher, irgendwann –

wenn man Angst hat, die Türen verriegelt,

keinen Rat weiß, dann kann es sein.

Pfingsten kehrt nicht die Folgen um,

springt nicht mit einem Satz über Ostern zurück,

ist nicht die Antwort Gottes, die er dem Pilatus,

dem Kaiphas, den Schriftgelehrten,

den Römern, wem noch? verabreicht.

Pfingsten ist nicht Antwort, sondern Frage –

denn Pfingsten ist Öffnung, es öffnet

das Osterereignis, das Ereignis des Aufgangs,

das keinen Schluss hat,

mit dem keiner fertig wird.

Pfingsten trägt Ostern überall hin,

geht durch die Mauern, unaufhaltsam.

Aus: Maria Otto / Ludger Hohn-Morisch, Das Lächeln Gottes. Gebete unserer Zeit, Freiburg / Basel / Wien 2003.

Ein frohes und gesegnetes Pfingstfest!